Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie rauschen vorbei, wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. So heißt es im Volkslied. Und im Phaidros des Sokrates heißt es - „Und ist die Rede einmal gesagt, schweift sie umher unter jenen, die sie gehört und die sie nicht gehört und weiß nicht an wen sie sich wendet und an wen nicht.“

Der meinungsbildende Kommunikationsprozess war seit eh und je von Irrungen und Wirrungen begleitet. Verbal gelogen wurde schon immer und geglaubt wurde alles Mögliche solange, bis man es besser wusste. Staunen, glauben, meinen, wissen.

Erst staunt man nur über die Sterne am Firmament, dann glaubt man sie seien mit göttlichen Mächten im Spiel und ist darauf hin der Meinung, dass bestimmte Stern-Konstellationen das eigene Leben beeinflussen bis man schließlich zu dem Wissen gelangt, dass Sterne Gas-Kugeln aus vorwiegend Wasserstoff sind und deshalb leuchten, weil die Wasserstoff-Atome unter enormer Druckverdichtung und Hitzeentwicklung miteinander verschmelzen, nach und nach in sich selbst verbrennen und am Ende erlöschen. Bis dahin nehmen wir diesen hochenergetischen Verbrennungsvorgang als punktuelles Licht war.    

Eine Meinung ist nicht richtig oder wahr, nur weil man sie hat oder beharrlich an ihr festhält. Man kann an die Kraft und Macht der Sterne und Planeten im All glauben und der Meinung sein, dass der Lebensalltag im eigenen Dasein von kosmischen Konstellationen beeinflusst wird oder man vertritt die Meinung, dass Horoskope reinster Humbug sind. Beide Meinungen können nebeneinander bestehen, obwohl die wissenschaftliche Faktenlage doch sehr deutlich dagegenspricht, dass Venus im Sternzeichen Stier für das Liebesglück verantwortlich ist oder Jupiter im Schütze-Zeichen die Chance auf einen Lotto-Gewinn erhöht.

Beim Glauben, insbesondere im Falle der Religionen, verhält es sich ähnlich wie beim Meinen. Nur gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen.

Im Meinungsbereich hat so ziemlich jeder zu diesem oder jenem seine eigene Meinung und der jeweilige Einzelfall im gesamten Meinungsspektrum kann sich mit anderen, gleichen oder ähnlichen Einzel-Meinungen zu einer kollektiven Komposition verdichten, zu einer „gängigen Meinung“ oder dem sogenannten Meinungsbild in einer Gesellschaft oder innerhalb von gesellschaftlichen Gruppen. Aus einzelnen Meinungen formiert sich somit eine Art Meinungskonsens unter vielen Menschen, der durchaus allgemein gängige oder gültige Verhaltensweisen und Handlungsrichtlinien bewirken kann, ohne dass ein so etabliertes gesellschaftliches Meinungsbild in ein regulierendes staatliches Gesetz gegossen werden muss.

Im Falle des religiös motivierten Glaubens ist es nahezu umgekehrt. Hier besteht das kollektivistisch gültige „Gesetz“ bereits am Anfang infolge dieser oder jener historisch-theistisch gewachsenen Doktrin. Unter dieser versammeln sich die einzelnen Gläubigen. In einem bestimmten religionsinternen Interpretationsrahmen gewiss, aber prinzipiell gibt es in den monotheistischen Religionen neben diesem oder jenem Gott keine zweite Meinung – sieht man von archaischen Glaubenskonzepten und vor allem vom diskursfreudigen Pantheon der Alten Griechen ab. Die zweite Meinung im Konzept des Gott-Glaubens existiert im Christentum allerdings doch, wenn auch als Angriff von außen verstanden. Dann geht es mit dem Teufel zu.

Das Meinen und der Glaube sind im Grundsatz interpretatorische Qualitäten der so zu nennenden Natur der Dinge mit allem was da kreucht und fleucht. Mit beidem beschreiben wir den menschlich subjektiven Realismus in der real objektiven Welt. Gerne auch mit wohlklingenden Reden, phantasiebegabten Texten und ausgeschmückten Bildern. Ja, geben wir es doch zu, oftmals malen wir uns die Welt in Freude positiver und im Leid negativer als sie tatsächlich ist. Und das ist gut und richtig so.

Denn unser existenzieller Auftrag besteht darin, vorgefunden Gegebenes nicht einfach schnöde hinzunehmen, sondern stets aus dem jeweiligen Bestand und Zustand heraus aufmerksam, forschend, aufklärerisch und kreativ-innovativ gestaltend, das schon Gute zum Besseren zu führen und dabei das Falsche vom Richtigen zu trennen.

Dies tun wir in einem sehr komplexen Informations-, Kommunikations- und Meinungsbildungsprozess, an dessen Ende das Ergebnis klarer Faktenlagen steht. Wissen – wir wollen wissen was Sache ist, was Fakt ist. Und es sind eben diese komplexen und von zahlreich alternativen Impulsgebungen befruchteten menschlichen Kommunikationsprozesse auf der Suche nach Klarheit und Wahrheit, die uns schließlich zur Erkenntnis durch Fakten-Wissen führen. Der Weg dahin ist variabel, dynamisch, volatil und auch von Fehlern und Irrtümern gekennzeichnet. Doch am Ende steht der alternativlose Fakt und ruft uns zu – so ist es und nicht anders! Doch es kam anders.     

In unserer jüngsten Geschichte hat der Fakt als gesichertes Ergebnis komplexer und vielfältiger Meinungsbildungsprozesse, einen neuen Namen erhalten. Dieser wurde von der ehemaligen Wahlkampf-Beraterin der Trump-Campaign 2016, Kellyanne Conway, geprägt - alternative facts. Kommunikationsstrategisch eine der genialsten Begriffsschöpfungen im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts.

Konkret bezeichnete Kellyanne Convey als Präsidentenberaterin am 22. 01. 2017 in einem Interview die falsche Aussage des Pressesprechers des Weißen Hauses, Sean Spicer, über die Besucherzahlen bei Donald Trumps erster Amtseinführung als Präsident der Vereinigten Staaten als alternative facts, als alternative Fakten gegenüber den tatsächlichen, nachweislich wahren Besucherzahlen. Und so wurde die Unwahrheit, das Falsche als Lügengespinst, plötzlich in den Stand des Auch-Wahren, Auch-Richtigen und Auch-Ehrlichen erhoben. 1+1, im Ergebnis de facto 2, konnte plötzlich zugleich alternativ-faktisch auch das Ergebnis 3 sein.

Wäre es nur um das reine Zahlenspiel gegangen, hätte sich das damalige Geplänkel um die Anzahl der Besucher während der Amtseinführung des 45. US-Präsidenten im Jahr 2017 wahrscheinlich recht schnell erledigt. Doch der Begriff alternative facts zog medial seine Kreise und wurde in der Öffentlichkeit diskutiert, kritisiert und antichambrierte zunehmend. Der Begriff diente sich im White House soweit hoch, dass man ihn zum Kampf-Begriff im trumpschen MAGA-Lager erhob.

Der kommunikationspolitische Coup von Kellyanne Convey war deshalb genial, weil damit jede formulierte Idee, die nur eine Meinung unter anderen ist und jedes dumme Geschwätz bis hin zur Lüge, als Alternative zum tatsächlichen und wahr existierenden Fakt erklärt werden konnte. Und die tatsächlich faktische Wahrheit musste dabei gar nicht sterben, sondern konnte neben dem alternativen Fakt weiter bestehen.

Kellyanne Convey gehörte der Administration im Regime Trump I als Beraterin seit August 2020 nicht mehr an, doch ihre Begriffsbildung alternative facts gehört inzwischen zum festen Bestandteil nahezu aller gesellschaftspolitischen Diskurse und Debatten weltweit.

Bisher haben wir in unserem kommunikativen Selbstverständnis der Meinung und dem Glauben zugestanden, dass es in diesen Bereichen interpretatorische Fülle, Vielfalt, zahlreich mehrdeutige Positionen und damit auch Unklarheiten und Irrtümer bis hin zu Lügengespinsten und dem Geschwätz des „dummen Zeug“ gibt.

Demgegenüber galt das Wissen, der Fakt, das Klare und Wahre stets als eindeutig, kaum verrückbar und damit als gesichert und verlässlich. Ein klares JA war nie die Alternative zu einem klaren NEIN, sondern die Zustimmung war stets das Gegenteil der Ablehnung und andersherum entsprechend.

Kellyanne Convey hat uns in eine andere Debatten- und Diskus-Welt versetzt. Seit gut acht Jahren gibt es (angeblich) zu jedem that’s it ein that‘s it, too, zu jedem Fakt einen alternativen Fakt.

Wasser fließt zwar immer noch nicht nach oben und mit Marmelade beschmierte Toastbrote fallen weiterhin auf die Marmeladenseite, wenn man sie fallen lässt, aber die gesellschaftspolitischen und medialen Gravitationskräfte entziehen sich zunehmend der bisher als checks and balances beschrieben politischen Physik in demokratisch gewählten Regierungen, unter Staaten und deren Rechtswesen sowie letztendlich bis in die Nachbarschaften der Bevölkerungen hinein.

Es scheint, als gäbe es doch ein Richtiges im Falschen oder zumindest ein Richtiges neben einem anderen Richtigen. In der Roman- und Film-Welt wären die alternativen Fakten die Matrix. Sie steuert uns in der bisher bekannten Fakten-Welt, die dann eigentlich nur jene mittlerweile so oft beschworene deep state Simulation wäre.

Also - wo und wie leben wir weiterhin in meinungsfreiheitlicher Freude, Fülle und Vielfalt mit klaren Ansagen und gesicherten Faktenlagen? Unter Irren im Realen oder selbst irre werdend im neuen Realismus der Alternativ-Faktiker?

Die Antwort auf diese große Frage kann aktuell nicht einmal die AI problemlösend geben. Deshalb bleibt uns nur eins übrig. Who you gonna call? Wir müssen die Ghost Busters, die Man in Black und Captain James T. Kirk auf der Brücke der Enterprise zugleich anrufen. Wer traut sich? Freiwillige vor.